Fotografischer Einblick in den kubanischen Alltag - [GEO]

2022-05-27 19:04:44 By : Mr. Lester Choo

Raul Cañibano war zu frisch auf der Welt, um spüren zu können, in welch aufregende Zeit er 1961 in Havanna hineingeboren wurde. Zwei Jahre zuvor hatten Fidel Castro, Che Guevara und zunächst nur ein paar Handvoll Männer den Diktator Fulgencio Batista ins Exil gejagt. Und Cañibanos Geburtsjahr war das Gründungsjahr des sozialistischen Staates Kuba. Was das Ereignis für Cañibanos Familie bedeutete, hat er auch später nicht seinen ausländischen Bewunderern erzählt; er versagt sich politische Kommentare, wenn man ihn fragt, wie er denn dieser besondere Erzähler des kubanischen Alltags werden konnte. Wie er denn dieser Fotograf werden konnte, dessen Bilder Zauber auf den ersten und nicht selten Irritation auf den zweiten Blick hervorrufen weil sie manchmal so rätselhafte Szenerien zeigen.

Nur dass er als Kind einige Male umzog, gibt er preis: nach Cienfuegos an der Südküste, aufs Land weiter nach Osten. Es existiert ein Schwarz-Weiß-Foto von Cañibano, das ihn als jungen, selbstbewussten Mann mit wildem Haar und offener Lederjacke zeigt. Er lehnt an einem Holzhaus, eine Kette auf der nackten Brust, die rechte Hand in die Seite gestemmt, den Kopf leicht geneigt, lässig. Er war zu dieser Zeit Schweißer. Sein Arbeitsplatz: die staatliche Fluglinie Kubas.

Das war kein schlechter Job. Nur nichts für Träumer. Und welchen Traum er in sich trug, entdeckte Raúl Cañibano, als ihn ein Freiticket seiner Fluggesellschaft wieder einmal in den Osten führte, wo er auf einen Lehrer mit Liebe zur Fotografie traf. Der hatte eine Dunkelkammer, in der Cañibano Zeuge wurde dieses kleinen Wunders mithilfe der Chemie, die auf einem Blatt Papier allmählich Schemen auftauchen und sich zu einem Bild entwickeln lässt. Und in diesem Moment stand fest: Fotograf wollte Cañibano werden.

Es gab um diese Zeit, Ende der 1980er-Jahre, keine Fotoschule in Kuba. Keine Universität mit einem Studiengang in visueller Ästhetik. So wurde die Nationalbibliothek José Martí Cañibanos Studienort. Dort vertiefte er sich in die Bildbände der ganz Großen der Zunft: Sebastião Salgado, Henri Cartier-Bresson, Josef Koudelka, W. Eugene Smith. In einer Ausstellung begegnete er den traumwandlerischen Bildern des 1992 im Alter von 41 Jahren verstorbenen Kubaners Alfredo Sarabia, der ihm zum Leitstern werden sollte. Aber Cañibano lernte das Komponieren von Bildern auch von den Malern, Surrealisten wie Salvador Dalí und anderen, in deren Bildern er etwas Mythisches, Verschlüsseltes fand.

Und so ging er los. Zurück aufs Land zunächst. Als Wanderer mit einer denkbar einfachen Methode. Er klopfte an die Türen von Bauern, Landarbeitern und ihren Frauen und bat um ein Glas Wasser. Und dann blieb er einfach, so sagt er es, bis er unsichtbar wurde. Bis seine Anwesenheit vergessen oder zumindest nicht mehr wichtig genommen wurde. Er liebte das: Tage mit zuvor fremden, aber zugewandten Menschen zu verbringen. Ihnen zuzuschauen. Bei der Ernte. In Momenten der Erschöpfung. Wenn sie Ochsen vor sich her trieben. Wenn sie nur das furchige Gesicht vor einer Wand waren. Nach dem Schlachten eines Huhns. Beim Essen auf dem Feld.

Was Raúl Cañibano in diesen Schwarz-Weiß-Bildern, die er Tierra Guajira (Bauernland) nannte, einfing, war komplett unspektakulär. Keine Glorifizierung des stolzen campesino, des neuen sozialistischen Menschen. Eher waren es in all ihrer Kargheit eindringliche und manchmal auch verstörende Szenen: der Schatten des Hahnenkopfs auf dem Gesicht des Jungen; der weiß geschminkte Charlie-Chaplin-Imitator mit Koffer, Stock und Zylinder auf dem schlammigen Dorfweg; die Macheten neben dem Schlafenden unter dem Wandbild zweier Schwäne; der Trompeter auf dem Feld, eingerahmt vom Leib eines dürren Pferdes im Vordergrund. Oder der halb nackte Junge, der neben drei toten Tieren liegt.

Die Anmut der Menschen faszinierte Cañibano, aber ihre Armut verdrängte er nicht. Wie auch hätte er die Härte ihres Lebens übersehen können? Es war die mit período especial überschriebene Zeit, jene Sonderperiode, die einen Zusammenbruch der kubanischen Ökonomie markierte. Der kommunistische Block in der Sowjetunion und Osteuropa war Ende der 1980er-Jahre kollabiert, Kuba hatte Geldgeber und Handelspartner verloren. Der Tausch von Zucker gegen Öl, Maschinen, Ersatzteile, Düngemittel, Pestizide funktionierte nicht mehr wie zuvor. Die Produktion von Zucker sank bereits ab Ende der 1980er-Jahre drastisch; hohe Prozentanteile seiner Lebensmittel musste Kuba importieren und anhaltend rationieren.

Und so muten manche Bilder von Cañibano an, als seien sie in der Zeit der Großen Depression in den USA entstanden, als infolge von Weltwirtschaftskrise und Dürre das Leben weiter Teile der Landbevölkerung zu einer einzigen Qual geworden war. Und wie die Fotografin Dorothea Lange damals auf ihren berühmt gewordenen Fotos die ausgezehrten Gesichter von Müttern mit ihren Babys in Lumpen festgehalten hatte, so schuf Cañibano Jahrzehnte später ein ganz ähnliches Bild von einer traurigen, ausgemergelten Frau auf dem Bett in einer Holzhütte mit Erdfußboden, ihrem Kind die Flasche gebend. Nur waren es jetzt nicht Trockenheit und globale Krise, aus denen das Elend kroch, sondern es war der Kollaps der kubanischen Wirtschaft, verbunden mit Hunger, verschärft durch das komplette Wirtschaftsembargo, das die Supermacht im Norden 1962 über Kuba verhängt hatte.

Nirgendwo sind Triumphe in den Fotos von Cañibano zu sehen, allenfalls Augenblicke privater Ausgelassenheit, wilder Freude. Keine Wandparolen, Massenaufläufe, Fahnenmeere. Die Helden der Revolution, Fidel und Che, tauchen nur auf tätowierten Rücken auf, nicht auf hohen Tribünen. Vom nationalen, vom offiziellen Pathos hält sich Cañibano, obwohl auch für die Juventud Rebelde, die Zeitung der kommunistischen Jugend, arbeitend, immer fern. Er hat die Bücher des französischen Surrealisten André Breton gelesen; er sucht eher nach den verborgenen Träumen, nach der Individualität des kubanischen Volkes, nach seinen kleinen Tragödien, seinem Trotz und Einfallsreichtum, seinen bizarren Geschichten. Das gilt auch für Cañibanos Bilder aus den Städten, die er über Jahre in der Serie Ciudad ansammelt.

Unzählige Male vor ihm sind die vor allem im Ausland kursierenden Klischees fotografiert worden: die mühsam fahrfähig gehaltenen Limousinen aus jener Zeit, als Kuba noch Casino und Bordell der Amerikaner war. Und der Malecón, die Ufermauer von Havanna. Die legendären Autos aber fotografiert Cañibano selten. Und das Leben am Meer anders als andere. Zwar springen auch auf seinen Bildern junge Leute ins Wasser, machen Handstand, lassen Drachen steigen, tollen durch überschwemmte Straßen, lieben sich Paare am Strand. Aber Cañibanos Begabung sind auch hier wieder Bilder, die durch ungewöhnliche Kompositionen eine eigenartige Magie entfalten. Zieht da ein Junge an seiner Angel einen kleinen Kerl aus dem Wasser? Was machen die Hände, die sich an einen Bootsrand klammern, im Vordergrund? Huscht da ein halbes Pferd an der Ufermauer entlang? Wem gilt der böse Blick des jungen Mannes, der sich hinter dem Spiegelbild eines Reiterdenkmals zu verstecken scheint? Was denkt das Mädchen mit dem Schirm, der nur noch Speichen, keinen Stoff mehr hat, über das seltsame Flugobjekt, das als skelettierter Riesenvogel an einem Drahtseil schwebt?

Kurz vor der Jahrtausendwende erhält Cañibano eine erste nationale Auszeichnung, den Grand Prix bei einer landesweiten Fotoausstellung, für sein Werk, über welches der Schriftsteller Leonardo Padura Fuentes schreibt, es umkreise die Synthese des Kubanischen. Wobei die nicht zu erklären sei, nur zu leben, zu fühlen.

Zu fühlen wohl auch in jener Religiosität, die sich in der kubanischen Seele immer erhalten hat: selbst in der Phase des offiziell atheistischen Staates, der sich 1992 per Verfassungsänderung zu einem säkularen wandelte. Gläubigen ist seither die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei PCC erlaubt. Aber weniger der Katholizismus etwa die Hälfte der Bevölkerung ist katholisch getauft als vielmehr die Santería, eine Mischreligion mit afrikanischen Wurzeln, birgt für Cañibano jenen Mystizismus, der ihn so fasziniert. Er fotografiert skurrile Opfergänge für San Lázaro. Anbetungen mit karnevaleskem Charakter. Menschen, die sich auf ihren Knien und mit Last auf dem Rücken hin zu dem Heiligen schinden.

Nur ganz allmählich geriet das stille Kuba-Bildnis des Raúl Cañibano auch in den Blick der Außenwelt: im Jahr 2000 bei einer Ausstellung in London, in der Folge auch in Mexiko, Frankreich und an der Ostküste der USA. Und nachdem Präsident Barack Obama im Dezember 2014 erklärt hatte, Amerika ist dabei, seine Beziehung (zu Kuba) zu verändern, holte Ron Herman, Professor am Foothill College in Palo Alto/ Kalifornien, Cañibano 2015 auch persönlich in die USA. Herman war zu Workshops nach Kuba gereist, hatte Cañibano dort getroffen und sich seine Geschichte erzählen lassen. Die Geschichte eines Fotografen, der nach dem Wegfall der Importe aus dem kommunistischen Block kaum noch Filme und Fotopapier hatte. Der sich die Chemikalien für seine Dunkelkammer selber mixen musste und dabei nicht selten schon belichtete Filme verlor.

In Kalifornien wurde Cañibano gefragt, was er als seine besondere Fähigkeit zu sehen betrachte. Wie er es schaffe, manchmal so viele Ausdrucksformen des Lebens in einem Bild zu vereinen. Cañibano blieb bei diesem Interview ganz bescheiden. Er möge es, auf der Straße zu arbeiten. Und dort mit den Augen zu sehen, was um die Menschen herum geschehe, bevor er durch die Kamera schaue. Er werde von allem und jedem inspiriert, sagte er bei anderer Gelegenheit. Und hätte er einen Wunsch frei, verriet er einmal, wäre er gern Mitglied einer berühmten Agentur wie Magnum Photos. Unter der Bedingung, für immer in Kuba leben zu können.

Die Liebe zu Kuba und seinen Menschen: Für Cañibano begann sie in der Zuckermühle Argelia Libre in Manatí, in der er einen glücklichen Teil seiner Kindheit verbrachte. Sie setzte sich fort, als er sich die Freiheit des Herumwanderns nahm und so auf eine von keiner politischen Entwicklung bezwingbare Vitalität seines Volkes traf. Und auf Solidarität.

Die hat Cañibano auch in der bislang letzten bekannt gewordenen Serie eingefangen: Ocaso, Sonnenuntergang. Es sind Bilder von alten und sehr alten Menschen, komische und rührende und intime Bilder. Von Seniorinnen-Gymnastik und einem gravitätischen Mann auf Rollschuhen. Vom Mädchen, das das weiße Haar einer stoischen Dame ordnet. Von einer Zigarre im runzligen Mund. Von gefalteten Händen. Kann man sie für elegisch halten? Oder nicht auch für sehr lebendig?

Oder für beides? So wie dieses verrückte Bild: Auf einem Bett liegt eine Frau mit geblümtem Sommerkleid, die Haut der Beine und Arme vom Alter gezeichnet, eine Hand auf das nachdenkliche Gesicht gelegt. Daneben ein Kind. Auf dem Gesicht: eine Horrormaske. In der linken Hand: eine Spielzeugpistole. Erfinden könnte man eine solche Szene nicht. Aber Cañibano hat sie gesehen; Absolut Cuba heißt sein Buch.

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